Ein Bericht zu Altersarmut in Österreich
Was sagen die Betroffenen selbst
Was bedeutet es, unter den Bedingungen von Altersarmut zuhause gepflegt oder betreut zu werden? Mit dieser Frage beschäftigte sich das Projekt „Pflege und Betreuung zuhause unter den Bedingungen von Altersarmut“, das von der Abteilung Anwaltschaftliche Ermächtigung der Volkshilfe Österreich durchgeführt wurde. Die Ergebnisse machen deutlich: Krankheit macht arm und umgekehrt. Gesundheitliche Einschränkungen gekoppelt mit Armut verursachen Mehrfachbelastungen – die negativen Folgen für die seelische Gesundheit der Betroffenen sind gravierend.
Von Marie Chahrour
Frau Hofbauer, Jahrgang 1948, ist Mindestpensionistin und lebt alleine in einer kleinen Zweizimmerwohnung in Linz. Ihr Leben lang kämpfte sie mit diversen, gesundheitlichen Herausforderungen. Seit einem dreifachen Bandscheibenvorfall ist sie in ihrer Mobilität stark eingeschränkt und auf Unterstützung angewiesen. Frau Hofbauer erhält 977 Euro Pension. Inklusive Ausgleichszulage und Pflegegeld stehen ihr monatlich insgesamt etwa 1275 Euro zur Verfügung. Ein großer Kostenpunkt sind gesundheitlich benötigte Hilfsmittel, wie zum Beispiel der Rollator oder das Krankenbett zuhause. Abzüglich Miete, Energiekosten und Lebensmittel bleibt kaum etwas zum Leben übrig. Der Alltag ist voller Entbehrungen und sozialer Isolation, die psychische Belastung ist enorm hoch.
So wie für Frau Hofbauer hat auch für tausende andere Pensionist*innen in Österreich der Traum von der sorgenfreien Pension nur wenig mit der Realität zu tun. 232.000 Personen waren in Österreich im Jahr 2021 von Altersarmut betroffen. Durch das Zusammenwirken der Armutsbetroffenheit und der körperlichen Einschränkungen besteht besonders hoher Bedarf an Unterstützung. Doch die ist meist mit Kosten verbunden – vor allem für Menschen mit erhöhtem Pflege- oder Betreuungsbedarf.
Hier setzte das Projekt zu Altersarmut der Volkshilfe Österreich an. Im Zentrum stand die Frage, wie armutsbetroffene Pensionist*innen ihre Pflege und Betreuung zuhause organisieren, und welche Herausforderungen durch das Zusammenwirken des Pflege- bzw. Betreuungsbedarfs und der Armut entstehen.
Ursachen der Altersarmut
Altersarmut ist weiblich: mehr als zwei Drittel aller Armutsbetroffenen über 65-Jährigen in Österreich sind Frauen. Deshalb wurden im Projekt fast ausschließlich pensionierte Frauen befragt. Der Blick auf die Lebensgeschichten der Befragten zeigt die Ursachen der Altersarmut und macht sichtbar, warum vor allem Frauen betroffen sind:
- Für den Großteil der Interviewpartnerinnen waren Heirat oder Familiengründung Wendepunkte in ihrer Erwerbsbiographie. Ab diesen Zeitpunkten unterbrachen oder beendeten sie ihre Erwerbstätigkeit, um für die Kinder zu sorgen und Hausarbeit zu leisten.
- Drei der Befragten migrierten im Alter von zwischen 30 und 40 Jahren nach Österreich. Bereits geleistete Pensionsjahre im Herkunftsland konnten nicht auf das österreichische Pensionskonto angerechnet werden.
- Einige der Interviewpartnerinnen blicken bereits auf eine längere Krankheitsgeschichte zurück. Diverse Erkrankungen, insbesondere psychischer oder chronischer Art, (Arbeits-) Unfälle oder andere körperliche Behinderungen schränkten die Erwerbsfähigkeit ein.
- Zusätzlich arbeiteten die Befragten oftmals in Bereichen des Niedriglohnsektors (bspw. Reinigung oder Gastronomie), die körperlich sehr anstrengend sind. Durch die harte Arbeit entstanden gesundheitliche Folgeschäden.
Wechselwirkungen zwischen Altersarmut und Pflege-/Betreuungsbedarf
Die Gespräche zeigten klar: Armut und Pflege- bzw. Betreuungsbedarf wirken zusammen und verstärken sich gegenseitig. Das führt zu einer doppelten Belastung und somit zu einer erhöhten Vulnerabilität der Betroffenen. Erkrankungen oder gesundheitliche Einschränkungen gehen mit der Notwendigkeit einher, verschiedene Gesundheitsprodukte und Pflegemittel zu verwenden. Doch in den meisten Fällen reicht das Pflegegeld nicht aus, um die vollen Kosten dafür zu decken.
Gesundheitsausgaben wie diese führen dazu, dass an anderen Stellen eingespart werden muss. Einschränkungen werden vor allem in den Bereichen Ernährung und Wohnen sichtbar. Der einseitige Lebensmittelkonsum hat negative Gesundheitsfolgen, da vor allem vitaminreiche, gesundheitsfördernde Lebensmittel wie frisches Obst und Gemüses nicht leistbar sind. In vielen Gesprächen wurden Anzeichen von Mangelernährung deutlich.
Psychische Belastungen durch Altersarmut und Pflege bzw. Betreuung zuhause
Die psychische Belastung durch die prekäre Lebenssituation war bei allen Befragten sehr hoch. Ein Großteil der Befragten litt an depressiven Verstimmungen, vereinzelt lagen auch schwere Depressionen vor. Einige der Befragten äußerten einen Sterbewunsch oder berichteten von suizidalen Gedanken.
Altersarmut geht mit sozialer Exklusion einher, die durch die Pflege oder Betreuung im eigenen Zuhause verstärkt wird. Aufgrund der gesundheitlichen Situation bestanden bei vielen der Projektteilnehmerinnen umfassende Mobilitätseinschränkungen. Teilweise waren die Pfleger*innen und Betreuer*innen die einzigen sozialen Kontakte der Projektteilnehmerinnen.
Viele der Gesprächsteilnehmerinnen lebten den Großteil ihres Lebens unter finanziell weniger prekären Bedingungen. Mit der Pensionierung erlebten sie einen sozialen Abstieg, der die Rahmenbedingungen ihres Lebens stark veränderte. Viele ehemals identitätsstiftende Lebensbereiche fielen entweder schlagartig oder graduell weg, was psychisch als besonders belastend empfunden wurde.
Charakteristisch für die befragten Frauen war beispielsweise ein starker Fürsorgeethos, der nun nichtmehr in gewohnter Form gelebt werden kann. Hilfe anzunehmen, anstatt sie selbst zu leisten, kostet vielen der Projektteilnehmerinnen große Überwindung. Auch andere identitätsstiftende Tätigkeiten, wie zum Beispiel das tägliche Kochen für sich selbst und andere, werden durch die Armut bzw. die gesundheitliche Situation eingeschränkt.
Verbesserungsmaßnahmen aus Sicht der Betroffenen
Jedes Gespräch wurde mit der Frage danach abgeschlossen, was sich die Projektteilnehmerinnen in Bezug auf ihr eigenes Leben wünschen würden. Fast immer lautete die Antwort: mehr finanzielle Mittel. Aus Sicht der Betroffenen wäre eine Erhöhung der Mindestpensionen also die wichtigste Maßnahme zur Verbesserung der eigenen Situation. Darüber hinaus bräuchte es Änderungen in der Krankenversicherung, damit beispielsweise auch Mittel zur Prophylaxe abgedeckt werden, oder der Selbstbehalt gesenkt wird. Um die vielen psychosozialen Folgen der Altersarmut abzufedern, wäre ein kostenfreier und unbürokratischer Zugang zu Psycho- und Physiotherapie vonnöten. Daran anschließend müssten Angebote von Besuchsdiensten und Alltagsbegleitung ausgebaut und leichter zugänglich gemacht werden, um Einsamkeit und sozialer Isolation entgegen zu wirken.
Den gesamten Bericht zu „Pflege und Betreuung zuhause unter den Bedingungen von Altersarmut“ finden Sie demnächst hier zum Download.
Alle Namen im Bericht wurden geändert.
Forderungen der Volkshilfe
- Bessere Anrechnung von Kinderbetreuungszeiten: unbezahlte Arbeit, die meist von Frauen erledigt wird, muss im Alter entsprechend „entlohnt“ werden. Die aktuelle Beitragsgrundlage, die monatlich angerechnet wird und 2020 bei 1.922,59 Euro lag, ist deutlich geringer als der brutto Vollzeitverdienst von weiblichen Angestellten (2.303,64 Euro). Eine Erhöhung der Beitragsgrundlage für Kindererziehungszeiten ist daher ein wichtiger Schritt in Richtung Alterssicherung von Frauen.
- Elternteilzeit pensionsrechtlich berücksichtigen: Eltern haben in Österreich die Möglichkeit zur Kinderbetreuung in Elternteilzeit zu gehen. Im Gegensatz zur Pflegeteilzeit wird diese unbezahlte Betreuungsarbeit aber nicht für die Pension angerechnet. Die Pensionsbeiträge, die durch die reduzierte Lohnarbeitszeit entstehen, sollten vom Bund übernommen werden. Diese Maßnahme hätte nicht nur den Effekt, dass Frauen existenzsichernde Pensionen erhalten, sondern wäre ein Anreiz für Väter, verstärkt Kinderbetreuung zu übernehmen.
- Ausbildungszeiten anrechnen: Schul- oder Studienzeiten werden derzeit nicht für die Pension angerechnet. Vor allem für die „Generation Praktikum“ bedeutet das ein erhöhtes Risiko niedriger Pensionen. Die, im Vergleich zu Männern, immer noch steigende Zahl an Frauen mit höherer Ausbildung ist ein Mitgrund für die niedrigen Frauenpensionen. Bildung muss hinsichtlich Pensionen genauso behandelt werden wie Lohnarbeit oder Sorgearbeit.
- Partner*innenunabhängige Ausgleichszulage: derzeit wird bei der Berechnung der Ausgleichzulage das gesamte Haushaltseinkommen berücksichtigt. Die Pension des Partners oder der Partnerin wird also zur eigenen dazugerechnet, wodurch in vielen Fällen der Anspruch auf Ausgleichszulage verfällt. Das führt dazu, dass viele Frauen im Alter von den Pensionsbezügen des Partners abhängig sind. Bis in die 70er Jahre war der Anspruch auf Ausgleichszulage unabhängig vom Partner*inneneinkommen. Eine Widereinführung der partner*innenunabhängigen Ausgleichszulage würde Frauenpensionen erhöhen und zusätzlich für mehr Unabhängigkeit im Alter sorgen.
- Erhöhung des Ausgleichszulagenrichtsatzes: Menschen mit niedrigen Personen müssen sozialstaatlich besser abgesichert werden. Der Ausgleichszulagenrichtsatz für eine alleinstehende Person liegt derzeit weit unter der Armutsgefährdungsschwelle. Ein Weg, um Altersarmut effektiv und sofortwirksam zu bekämpfen wäre daher, die Berechnungsschwelle für die Ausgleichszulage mindestens auf die Armutsgrenze anzuheben.
- Höhere Pensionsbeiträge bei Arbeitslosigkeit: Nur jede zweite Frau tritt die Pension aus einer Beschäftigung heraus an. Die Hälfte aller Frauen ist bereits seit durchschnittlich sieben Jahren erwerbslos, wenn sie in den Ruhestand gehen. Trotzdem soll ab 2024 das Eintrittsalter in die Pension stufenweise erhöht werden. . Einerseits braucht es höhere Pensionsbeiträge im Fall von Erwerbslosigkeit, doch gleichzeitig muss dafür gesorgt werden, dass Frauen länger in Beschäftigung bleiben können, bevor sie in Pension gehen. Hier sind die Betriebe gefordert, angemessene Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Erwerbsarbeit auch im höheren Alter mit den Lebensumständen vereinbar ist. Ohne einer Senkung der Frauenarbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe würde die geplante Anhebung des Frauenpensionsalters die Altersarmut unter Frauen in Österreich weiter vergrößern.
- Änderung des Durchrechnungszeitraums: seit Einführung der „lebenslangen Durchrechnung“ werden auch Phasen der Nicht- oder Teilzeiterwerbstätigkeit in die Pensionsberechnung mit einbezogen. Dies ist eine zentrale Ursache für die niedrigen Durchschnittspensionen bei Frauen. Ein effektiver Weg zur Bekämpfung von Altersarmut wäre es daher, nur die einkommensstärksten 15 Versicherungsjahre zur Pensionsberechnung heranzuziehen, oder die schwächsten 10 Versicherungsjahre zu streichen, und somit für eine Aufwertung der Pensionen – vor allem von Frauen – zu sorgen.
Neben diesen Vorschlägen muss mittels einer aktiven Arbeits- und Familienpolitik für mehr Geschlechtergerechtigkeit gesorgt werden.
- Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen – Frauen ermöglichen Vollzeit zu arbeiten: aufgrund von fehlender Infrastruktur ist vielen Eltern, vor allem abseits der Städte, eine Vollzeit-Erwerbstätigkeit nicht möglich. Daher müssen Kinderbetreuungseinrichtungen dringend flächendeckend und qualitativ hochwertig ausgebaut werden.
- Höhere Löhne für frauendominierte Beschäftigungsbereiche: auch die bezahlte Arbeit von Frauen wird geringer geschätzt. In vielen Berufen, die mehrheitlich von Frauen ausgeübt werden, herrschen niedrige Löhne und prekäre Verhältnisse. Frauendominierte Beschäftigungsbereiche müssen besser entlohnt werden, insbesondere gesellschaftlich höchst relevante Bereiche wie Kinderbetreuung, Bildung, Gesundheitswesen oder Pflege.
- Veränderung in den Köpfen: dass ein Großteil der unbezahlten Fürsorgearbeit immer noch von Frauen erledigt wird, hängt auch heute noch stark mit Rollenbildern zusammen. Die Vorstellung, Frauen seien auf „natürliche“ Weise besser für diese Tätigkeiten geeignet, sitzt tief im kollektiven Bewusstsein. Es wird daher nicht ausreichen, auf Ebene des Sozialsystems, des Arbeitsmarktes oder der Familienpolitik anzusetzen, um Altersarmut langfristig zu bekämpfen. Eine gerechte gesellschaftliche Verteilung der unbezahlten Fürsorgearbeit ist der Schlüssel für Gleichberechtigung und ökonomische Gleichheit zwischen den Geschlechtern. Damit Männer in gleichem Ausmaß wie Frauen in Karenz gehen, Pflegetätigkeiten übernehmen und Hausarbeit leisten, müssen veraltete Rollenbilder und Geschlechterstereotype endlich überwunden werden. Tätigkeiten und Berufe im Bereich der Fürsorge, egal ob bezahlt oder unbezahlt, müssen nicht nur symbolisch und ökonomisch aufgewertet, sondern auch von ihrer geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibung gelöst werden.
3. August 2023
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