Humanitäre Hilfe in Nordostsyrien
„Die Meisten Familien wurden mehrfach vertrieben: durch Krieg, Besatzung, Erdbeben.“
In Syrien herrscht anhaltende Inflation, die den Zugang zu lebensnotwendigen Gütern für viele unerschwinglich macht. Das Erdbeben im Februar sowie erneute Bombardements durch die Türkei haben die Lage verschärft. Infrastruktur wurde schwer getroffen, wodurch die Versorgung der etwa fünf Millionen Einwohner*innen gefährdet ist. Während ihres jüngsten Aufenthalts in Nordostsyrien führte Alicia Allgäuer, unsere Projektleiterin der internationalen Zusammenarbeit, im Rahmen einer Projektreise im Auftrag der Volkshilfe zahlreiche Gespräche und Besichtigungen durch, um ein Verständnis für die Herausforderungen in Nordostsyrien zu gewinnen.
Wie ist die Lage in Nordostsyrien?
Zusätzlich zu den Problemen in der Energieversorgung nach der Zerstörung von Infrastruktur – auch wurden etwa Spitäler, Weizensilos und Industrieanlagen getroffen – ist die Wasserknappheit aufgrund des Klimawandels und zahlreicher Staudämme in der Türkei ein großes Problem in der Region.
Welche Auswirkungen haben diese Probleme auf die Bevölkerung?
Zwischen 500.000 und 1 Million Binnenvertriebene leben in verschiedenen Camps und Notunterkünften, und die Präsenz von IS-Schläferzellen stellt eine zusätzliche Sicherheitsbedrohung dar. Viele Menschen haben keinen angemessenen Zugang zu Wasser, Strom, medizinischer Versorgung und Grundnahrungsmitteln.
Welche dringenden Maßnahmen müssen ergriffen werden, um die Situation zu verbessern?
Notwendige Maßnahmen sind sofortige Reparaturen von medizinischer Infrastruktur und Energieversorgung. Langfristige Ziele umfassen die Bewältigung der Wasserknappheit sowie internationale Unterstützung im Bereich der Sicherheit, sowohl was den wiedererstarkenden IS betrifft, als auch Verhandlungen mit der Türkei, um eine nachhaltige friedliche Lösung für die Region und die Menschen dort zu ermöglichen.
Du hast unsere Partnerorganisation, das Hiro Center besucht. Wie ist Dein Eindruck ihrer Arbeit?
Das Hiro Center for Dialogue and Rehabilitation hinterließ den Eindruck eines hochengagierten, fachlich versierten Teams, bestehend aus neun Mitarbeitenden und zwei Freiwilligen in Qamishli sowie weiteren sechs Mitarbeiter*innen in Sheikh Maqsoud. Ihre laufende Nothilfe in Sheikh Maqsoud wird äußerst gewissenhaft durchgeführt und dokumentiert. Dort, in Aleppo, werden nicht nur Hilfsgüter verteilt, sondern auch psychologische Unterstützung angeboten sowie nach dem Erdbeben notwendige Reparaturen durchgeführt, um Sicherheitsprobleme zu überwinden. Weitere finanzielle Unterstützung ist ein dringendes Anliegen, um die begonnene Arbeit weiterführen zu können.
Auf welche Schwerpunkte legt das Hiro Center in seinen zukünftigen Projekten Wert?
Zukünftige Projektideen gehen beispielsweise in Richtung der Schaffung von sicheren Räumen für Kinder, Unterstützung von Menschen mit Behinderungen, Frauenförderung, Existenzsicherung und die Förderung demokratischer Werte in einer multiethnischen Gesellschaft.
Du hast vertriebene Familien getroffen, wie ist ihre Situation?
Die Familien kämpfen mit Wohnungslosigkeit, fehlendem Zugang zu Wasser, Strom und dringend benötigter medizinischer Versorgung. Die meisten Familien wurden bereits mehrfach vertrieben: durch Krieg, Besatzung und zuletzt das Erdbeben. Psychologische Unterstützung und Traumatherapie wären ebenso wichtig wie die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern. Das Hiro-Team besuchte mit Alicia auch zwei Notunterkünfte in verlassenen Schulen besucht. Die Marwan-Youssef-Schule beherbergt 40 Familien in beengten Verhältnissen, mit Gesundheitsproblemen aufgrund unbezahlbarer Medikamente und einem Mangel an Lebensmitteln. Die Ahmed-Yasin Schule beheimatet 84 Familien, hauptsächlich arabische, mit begrenztem Stromzugang und sporadischer medizinischer Versorgung. Winterkleidung und Nahrungsmittel werden dringend benötigt. Trotz des großen Bedarfs bleibt die internationale Aufmerksamkeit gering. Wir hoffen auf Ihre Unterstützung für diese Menschen in Not.
Dunia und ihre Töchter aus Afrin flohen nach der türkischen Besatzung 2018 nach Sheikh Maqsoud und mussten aufgrund des Erdbebens zum dritten Mal fliehen. Sie arbeitet in Qamishli und verdient 500.000 syrische Pfund im Monat, wovon sich kaum die täglichen Lebenshaltungskosten bezahlen lassen. Sie möchte, dass ihre Töchter Englisch und Arabisch lernen, um später bessere Chancen zu haben.
Muna flüchtete mit 6 Familienmitgliedern nach der Zerstörung ihrer Olivenhaine durch türkische Söldner aus Afrin. Sie erlebten tragische Verluste durch das Erdbeben und mussten mehrfach den Wohnort wechseln. Ihre aktuelle Situation in Qamishli war geprägt von beengten Unterkünften und der Herausforderung, sich mit anderen Familien ein Zuhause zu teilen.
Diana und ihre Familie aus Aleppo fanden nach dem Erdbeben in Qamishli Zuflucht. Sie und ihr Bruder Mohammed machen Hilfsarbeiten für Händler, da Mohammed als Keramiker keine Arbeit in seiner Branche finden konnte. Die neunköpfige Familie lebt in zwei spärlich eingerichteten Zimmern ohne fließendes Wasser und Strom. Die Küche dient auch als Badezimmer.
Die Familie von Khadija erlitt durch das Erdbeben in Jenderis schwere Verluste. Während sie in Aleppo war, rettete sie sich mit ihren 4 Kindern vor der Tragödie, flüchtete dann nach Qamishli. Ihr Mann hat Arbeit gefunden, welche die Miete deckt, aber es bleibt kaum Geld für die dringend benötigte medizinische Versorgung und Medikamente für ihr Kind mit Down-Syndrom übrig.
8. Januar 2024