Projektbesuch in Syrien
„Die Menschen hier sind unglaublich resilient, aber sie brauchen dringend unsere Unterstützung.“
In den von der AANES (Autonomous Administration of North- and East Syria) verwalteten Regionen unterstützt die Volkshilfe derzeit drei Projekte mit Mitteln von AWO International, Nachbar in Not sowie eigenen Spenden. Volkshilfe-Projektleiterin Alicia Allgäuer konnte sich bei einer Monitoringreise im Juni 2024 ein Bild von den Projektfortschritten und Herausforderungen vor Ort machen. Ein Reisebericht.
Es ist heiß in Qamishli. Über 40 Grad im Schatten, an manchen Tagen bis zu 60 Grad in der Sonne. Dieselgeruch hängt in der staubigen Luft. Alte Generatoren fressen gepanschten Treibstoff und ermöglichen jenen, die es sich leisten können, immerhin tagsüber den Betrieb von Ventilatoren, um den Schweiß zu trocknen. Vor den türkischen Angriffen auf große Teile der Infrastruktur im Oktober 2023 war die Stromversorgung besser. Jetzt gibt es weder regelmäßig Strom noch Wasser, denn die Wasserpumpen können ohne Strom nicht betrieben werden.
Das Wasser, das trotzdem den Weg in die Leitungen findet, hat immer schlechtere Qualität. „Nach dem Duschen habe ich das Gefühl, ich sollte mich erst recht waschen“, erzählt eine junge Frau. „Habt ihr Wasser, ist das Wasser schon gekommen, ich habe nicht geschlafen, weil um 2 in der Nacht Wasser kam und ich den Tank füllen musste…“ Wasser ist derzeit auch in Qamishli tägliches Konversationsthema. Dabei ist die Versorgung dort im Vergleich zu anderen Städten wie Al-Hasakeh normalerweise recht gut. In vielen Teilen Syriens ist es, anders als in Österreich, keineswegs selbstverständlich, dass Wasser aus dem Hahn kommt, der Kühlschrank 24/7 läuft und ich jederzeit mein Handy aufladen kann. Aber die Menschen organisieren sich und ihren Alltag und vieles funktioniert erstaunlich gut. Gegen die Hyperinflation, Naturkatastrophen wie das Erdbeben, den Klimawandel und den immer noch andauernden Krieg ist es hingegen schwerer anzukommen. Die Preise für Waren des täglichen Bedarfs sind horrend, mit einem Durchschnittsgehalt kommt eine Familie nicht über die Runden. „Vor 14 Jahren wurde meine Schwester, eine Agraringeneurin, für ihren Gehalt von 6.000 Syrischen Lira beneidet. Und jetzt kann ich mit 6.000 Lira gerade einmal diese zwei Fläschchen Wasser kaufen“, erzählt der Direktor unserer lokalen Partnerorganisation Hiro, Taha Khalil.
Arif, der mit seiner Frau Hawar und zwei kleinen Kindern vor 6 Monaten aus Jenderis nach Qamishli geflüchtet ist, verdient umgerechnet 150 US Dollar im Monat. Für die Deckung des Lebensunterhalts bräuchte die Familie mindestens 400 Dollar im Monat. Dank dem Projekt Guldan, das aus Mitteln von Nachbar in Not finanziert wird, erhält die Familie immerhin ein Mal pro Monat Lebensmittel und Hygieneartikel. „Guldan ist eine riesengroße Hilfe, ohne die wir nicht über die Runden kommen würden. Auch die psychosoziale Unterstützung, die Hiro anbietet, ist sehr wichtig für uns. Es hat so gut getan, einfach einmal über unsere Erlebnisse, Ängste und Sorgen sprechen zu können.“ Jenderis liegt in der Region Afrin, die seit 2018 von islamistischen Milizen, die von der Türkei unterstützt werden, besetzt ist. „Wir hatten dort Gärten, Obst- und Olivenbäume. Zuerst haben die Söldner vieles zerstört, dann kam auch noch das Erdbeben. 90% von Jenderis sind jetzt kaputt. Auch unser Haus und das meines Bruders.“
Im kurdischen Viertel von Aleppo, Sheikh Maqsoud, zerstörte das Erdbeben ebenso zahlreiche Häuser und Infrastruktur. „Alle Menschen dort kennen jetzt die Volkshilfe und AWO, denn es gibt keine anderen internationalen NGOs dort“, erzählt Manal, die für Hiro regelmäßig nach Sheikh Maqsoud fährt. Die Enklave der autonomen Verwaltung in Aleppo ist für internationale Organisationen schwer zu erreichen, ebenso wie die nördlich davon gelegene Region Shehba. Beide Regionen sind isoliert vom restlichen Gebiet der Selbstverwaltung, islamistische Milizen kontrollieren den Norden Syriens, um nach Shehba und Sheikh Maqsoud zu kommen, müssen zahlreiche Checkpoints der syrischen Regierung passiert werden. Händler, die Waren in diese Regionen bringen, müssen Abgaben an den Checkpoints zahlen, weshalb die Preise für Nahrungsmittel, Benzin, Medikamente usw. dort bis zu dreimal höher sind als im restlichen Land.
Gleich nach dem Erdbeben begann Hiro mit der Verteilung von Nothilfepaketen in Sheikh Maqsoud. Türen und Fenster wurden repariert, Solarlampen in den Straßen installiert. Jetzt wird noch der einzige Park dort restauriert, damit es einen Treffpunkt gibt, wo die Menschen ein wenig ausspannen können. Aus Mitteln von Nachbar in Not und AWO International baut unsere lokale Partnerorganisation Heyva Sor a Kurd nun das vom Erdbeben zerstörte Kanalsystem wieder auf. Außerdem werden in Shehba zwei solarbetriebene Brunnen gebaut, ein Spital renoviert und 50 Häuser, die für Betroffene des Erdbebens errichet wurden, mit Möbeln ausgestattet.
Auch in Qamishli ist der Bedarf an Gütern des täglichen Bedarfs unter geflüchteten Familien groß. Die 8-köpfige Familie von Nadia besitzt keinen Kühlschrank und keinen Ventilator. Um ein wenig kaltes Wasser trinken zu können, bittet sie Nachbar*innen um Eis. Auch Bett haben sie keines, in den heißen Nächten schlafen sie im Innenhof auf der Erde. „Oft kriechen Skorpione über die Decken, zum Glück ist meinen Kindern bisher nichts passiert.“ Über das Projekt Guldan erhalten Familien wie die Nadias grundlegende Einrichtungsgegenstände. Schwieriger ist das Wasserproblem zu lösen. „Seit zwei Wochen kommt gar kein Wasser mehr in dieses Viertel. Die Versorgung war seit Oktober schon immer wieder unterbrochen, aber so lange waren wir bisher noch nie ohne Wasser. Und wenn es kommt, können wir es nicht einmal zum Teekochen verwenden.“
„Neben den traumatischen Erlebnissen von Krieg und Erdbeben sprechen die Menschen auch viel über die ökonomische Situation, das Problem der frühen Schwangerschaften und das wachsende Drogenproblem vor allem unter jungen Menschen.“, erzählt Sherin, die den Projektteilnehmenden von Guldan psychosoziale Unterstützung anbietet. Insbesondere die synthtetische Droge Kaptagon, die in Syrien in großem Stil produziert wird und an deren Verkauf sich sowohl die syrische Regierung als auch islamstische Milizen beteiligen, ist mittlerweile im ganzen Nahen Osten ein großes Problem geworden. Gerade für junge Menschen ist es verlockend, so ihre Kriegstraumata, Verluste und Zukunftsängste ein wenig zu vergessen. „Freizeitangebote für Jugendliche wären enorm wichtig, um ihnen Alternativen zu bieten“, ist sich das Hiro-Team einig.
Unterdessen schickt sich Nadias Tochter an für uns Kaffee zu kochen. Dankend lehnen wir ab, Kaffee ist kostbar, Wasser noch mehr. Im Auto wartet der letzte Schluck aus der 3.000 Lira teuren Plastikflasche auf uns.
Foto Header @ Thomas Schmidinger